Die Wildnis in uns – Gnade

Die Wildnis in uns – Gnade

Toni Morrisons “Gnade”: Der Farmer und Händler Vaark nimmt 1682 das Sklavenmädchen Florens als Zahlung von einem Schuldner an, obwohl es gegen seine Überzeugung geht. Auf seiner Farm lebt sie mit drei weiteren Frauen, während Vaark zwar reich wird, aber früh verstirbt. Gemeinsam versuchen sie, die Aufgaben, die sich ihnen stellen, zu lösen und gegen die raue Natur um sie herum und in ihnen zu kämpfen.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Spazieren gegangen.
  2. Im Gedächtnis nach Schwächen des Buches gesucht.
  3. Rezension geschrieben.

Mein Eindruck zu „Gnade“:

Toni Morrisons Roman „Gnade“ ist extrem lesenswert für alle, die sich für die Ursprünge der Sklaverei in Amerika interessieren, für alle, die spannende Geschichten und gut ausgearbeitete Figuren mögen, für alle, die lernen wollen, wie man einen modernen Roman brillant umsetzen kann, und für alle, die mehr (oder überhaupt mal!) Bücher begnadeter Autorinnen lesen möchten.

Stärken des Buchs:

„Gnade“ ist inhaltlich, sprachlich und erzähltechnisch auf ganz hohem Niveau verfasst. Durch Perspektivwechsel bekommt man Eindruck in das Innenleben und die Motivation aller Figuren, was zu einem breiteren Verständnis des Geschehens führt und immer wieder zeigt, dass Dinge aus Sicht einer Person ganz anders wirken können als aus Sicht einer anderen. Eine Identifikation mit allen Figuren ist möglich und das, obwohl keine perfekt ist, manche ganz und gar nicht. Diese Figuren haben eben Substanz und wirken nicht konstruiert.

Selten habe ich derart viele gekonnte Abweichungen von klassischen Erzählweisen gelesen. Perspektivwechsel, Zeitsprünge und Geschichten in der Geschichte. „Gnade“ ist modern erzählt, was ich sehr spannend finde. Gleichzeitig ist die Sprache bildhaft und dabei immer an die jeweilige Figur angepasst: Die Sprachbilder, die zu Florens passen, gehören nicht zu Lina oder Sorrow. Übrigens gibt es auch feine Unterschiede in der Stimme des personalen Erzählers, je nach dem, von wem gerade berichtet wird.

Vielen werden die technischen Fragen egal sein. Toni Morrison schafft es aber mithilfe der Techniken die Landschaft und das Leben im 17. Jahrhundert in Amerika großartig darzustellen. Und auf unter 220 Seiten die Schicksale aller Figuren, die übrigens allesamt spannend und einzigartig sind, so zu skizzieren, dass man am Ende das Gefühl hat, mehrere Leben miterlebt zu haben.

Jeder Figur ist ein Kapitel gewidmet, das ihr Leben bis zum Eintreffen auf der Farm und darüber hinaus wiedergibt. Besonders spannend daran ist, dass diese kurzen Lebensgeschichten plötzlich ein neues Licht auf alles Vorherige werfen und beispielsweise Verhaltensweisen erklären, die zuvor, also aus Sicht anderer Figuren, entweder keinen Sinn ergaben oder falsch verstanden worden sind. Dabei dient auch jedes dieser Kapitel als Einblick in die historische Vergangenheit Amerikas und die Lebenswege der Figuren als Beispielschicksale, die es so wirklich gegeben haben könnte. Auf diese Weise lernt man nebenher die Lebensumstände und die gesellschaftlichen Begebenheiten des 17. Jahrhunderts in Amerika kennen.

Schwächen des Buchs:

An manchen Stellen von „Gnade“ konnte ich einfach nicht mehr folgen. Entweder die sprachlichen Bilder waren mir zu fremd oder ich hätte (noch) aufmerksamer lesen müssen oder, was ich gelegentlich vermutet habe, es lag an Übersetzungsschwierigkeiten. Das ging nie so weit, dass mir Wichtiges unverständlich geblieben wäre, sondern beschränkte sich stets auf Details.

Konzentration ist für diesen Roman definitiv notwendig. In jedem Kapitel wird die Perspektive gewechselt, ohne dass ausdrücklich gesagt werden würde, welche Figur gerade im Fokus des personalen Erzählers stünde. Nur im Fall der Ich-Erzählerin gibt es keinen Wechsel. Innerhalb der Kapitel springt die Geschichte vor- und rückwärts in der Zeit. Das geschieht teils so überraschend, dass ein einziger unaufmerksam gelesener Satz dazu führt, dass man den Faden verliert und den Part erneut lesen muss.

Mein Fazit zu „Gnade“:

„Gnade“ gehört zu den Büchern, aus denen man Menschliches und Historisches lernt, während man auf hohem Niveau gut unterhalten wird. Viel mehr kann man wohl kaum verlangen.

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Gnade

Toni Morrison

Gegenwartsliteratur historischer Roman
Softcover, 224 Seiten

erschienen bei Rowohl

01. September 2011

ISBN 978-3-499249624

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