Nie wieder unfrei – Menschenkind

Nie wieder unfrei – Menschenkind

Menschenkind: Den Tod ihrer Tochter hat Sethe niemals verwunden und auch ihre Zeit in der Sklaverei nicht. Der Geist des Mädchens lässt ein normales Leben im Haus unmöglich erscheinen und hält die Nachbarschaft fern. Als dann Paul D., ein Bekannter aus den Tagen der Sklaverei, auftaucht, kommen Erinnerungen an die Oberfläche und noch einmal verändert sich das Leben im Haus 124 der Bluestone Road.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Gegessen
  2. Trainiert
  3. Gegessen

Mein Eindruck zu „Menschenkind”:

„Menschenkind“ von Toni Morrison ist eine Studie im Umgang mit den Dämonen – oder eben Geistern – der Vergangenheit, ein schwerer Gang durch Erinnerungen und neue Lebensentwürfe, nachdem man die Hölle immer nur scheinbar hinter sich gelassen hat, und eine Erinnerung für alle heute lebenden Menschen, dass diese Hölle von Menschen gemacht war in Form der Sklaverei.

Zum besseren Verständnis: Ich habe die Übersetzung von Thomas Piltz gelesen, nicht das englische Original „Beloved“.

Stärken des Buchs:

Die größte Stärke von „Menschenkind“ ist wohl das Thema. Sowohl die Zeit der Sklaverei, die noch immer Aufarbeitung erfordert und Erinnerung fordert, als auch das allgemeinere Thema der Verarbeitung einer schwierigen oder sogar traumatischen Vergangenheit sind schwer nicht zu befürworten, wenn sie auch als solche schwierig sein mögen, oder gerade deswegen.

Um diese Themen anzugehen und umzusetzen, musste Toni Morrison abweichen von gängigen Sprachnormen. Im Vorwort drückt sie dies aus durch den Satz: „Wer die seelische Innenansicht der Versklavung in Worte fassen will, darf die Grenzen der Sprache nicht achten.“ Nicht nur nutzen die Figuren keine ausgeklügelte Hochsprache, sondern auch die Erzählinstanz wechselt im Tempus und passt sich gedanklich sowie sprachlich immer wieder den Figuren und ihrer Innenwelt an. So jedenfalls habe ich es interpretiert und deshalb hat es mir gefallen. Man bekommt einen (durch die Übersetzung groben) Eindruck der Welt, in der die Befreiten und Entflohenen leben, und der Art, wie sie denken.

Durch diese Verwendung der Sprache werden die Figuren in „Menschenkind“ lebendiger, ihre Umstände greifbarer. Viele der Figuren sind ehemalige Sklav*innen und halten zusammen. Man spürt den Zusammenhalt und die Verschworenheit der losen Gruppe, die auch Fremde mitversorgt, weil sie alle um den Schrecken wissen, dem sie entkommen sind, und den Schwierigkeiten, denen sie selbst in „Freiheit“ ständig ausgesetzt waren. Man spürt Menschlichkeit. Und diese Menschlichkeit führt dazu, dass der Horror der Sklaverei, die reale Tatsache dieses Horrors, beim Lesen umso schmerzlicher ins Bewusstsein drängt. Um eigene Gefühle kommt man während der Lektüre nicht herum. Das ist gut so.

Im Vorwort erwähnt Toni Morrison die historische Tat, die sie (in abgeänderter Form) zur Grundlage ihres Romans „Menschenkind“ wählte. Margaret Garner war eine junge Mutter, die aus der Sklaverei entkommen war, und es vorzog, eines ihrer Kinder zu töten sowie es bei den anderen Kindern zu versuchen, als dass die Kinder auf die Plantage des ehemaligen „Besitzers“ zurückverschleppt wurden. Man kann ahnen, wie heftig ein Roman auf dieser Basis werden kann. Außerdem werfen sowohl der reale Fall als auch die Umsetzung im Buch etliche interessante Fragen auf. Wie kann man es über sich bringen, die eigene Macht dazu nutzen, für andere Menschen eine Lebensumgebung zu schaffen, die so schrecklich ist, dass sie lieber sterben oder ihre Kinder aus Liebe töten, bevor sie freiwillig dort und so existieren? Haben wir alle eine solche Grausamkeit in uns? Dieser Kern des Romans allein ist so erschütternd, dass man Toni Morrison schon für den Mut loben muss und ihr danken sollte, dass sie sich (erfolgreich!) herangewagt hat. Es war notwendig, aber das heißt ja leider nicht, dass es auch jemand tut. Morrison hat es getan.

Schwächen des Buchs:

Wie bereits in der Rezension zu „Gnade“ erwähnt, verliert mich Toni Morrison gelegentlich. Auch in „Menschenkind“ gibt es Passagen, denen ich nicht mehr folgen konnte. Liegt es am Stil? An der Übersetzung? An mir? Jedenfalls passiert es mir selten, dass ich beim Lesen nicht weiß, was gerade im Buch passiert. Faszinierend sind die Passagen dennoch und zum größten Teil gefällt mir Morrisons Stil. Aber, wie gesagt, an manchen Stellen – manchmal nur eine Umschreibung, manchmal mehrere Seiten lang – war ich verwirrt oder unsicher. Bis zu einem gewissen Punkt ist das jedoch sicherlich Absicht gewesen.

Wieso „Menschenkind“? Der Originaltitel lautet „Beloved“ und das ergibt Sinn. Ich spoiler nicht wirklich, wenn ich vorwegnehme, dass „Menschenkind“ sowohl die Inschrift eines Grabsteins als auch der Name einer Figur ist. „Beloved“ als Name und liebevolle Inschrift klingt so schön, wie es gemeint ist, aber „Menschenkind“? Das wirkt kalt und förmlich auf mich. Über diese wichtige Übersetzungsentscheidung habe ich nachgedacht und ein wenig gesucht, ob ich eine Erklärung finden könnte, aber es scheint, mir fehlt da etwas. Ich bin mir sicher, dass die Übersetzung durchdacht ist, aber ich kann sie mit dem Wissen, das ich habe, nicht nachvollziehen. Daher bin ich beim Lesen regelmäßig über das Wort/den Namen „Menschenkind“ gestolpert.

Keine Schwäche, aber eine Warnung: In „Menschenkind“ werden Szenen schlimmster Gewalt angedeutet und beschrieben. Prügel, Vergewaltigungen, Mord, Verstümmelungen. Das ist wohl kaum zu umgehen, wenn man einen Roman schreibt, in dem es zu großen Teilen um Sklaverei geht. Wer damit (aus welchen Gründen auch immer) nicht umgehen kann oder möchte, sollte sich der Gewalt im Buch im Vorfeld bewusst sein. Deshalb erwähne ich den Punkt.

Die letzte Schwäche, die keine ist, mir aber das Lesevergnügen getrübt hat, ist der Hype um das Buch. Wenn auf dem Buchrücken steht, dass es zum „besten amerikanischen Roman der letzten 25 Jahre gewählt“ worden ist, erwarte ich viel. Oft schaue ich gar nicht erst auf den Klappentext oder die Werbung, sondern lese rein nach Empfehlung. Diesmal habe ich auch den Buchrücken gelesen und war deshalb ein wenig enttäuscht.

Mein Fazit zu “Menschenkind”:

„Menschenkind“ von Toni Morrison ist thematisch und stilistisch keine leichte Kost, stellt aber ein Must-Read für alle Interessierten an der Geschichte der Sklaverei in den USA dar. Man lernt viel über Leid und die Relativität des Leidens – manchmal ist ein Schrecken besser als ein anderer, oder? Ich habe mal wieder lernen dürfen, wie beschützt und privilegiert ich aufgewachsen bin. Das ist eine wichtige Lektion, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Ob man sie durch „Menschenkind“ lernt oder durch andere Werke, scheint mir relativ egal zu sein. Also warum nicht aus „Menschenkind“ lernen?

Du willst mehr von Matthias lesen? Hier gelangst du zu seinen Rezensionen.



Menschenkind

Toni Morrison

Gegenwartsliteratur historischer Roman
Softcover, 400Seiten

erschienen bei Rowohlt

02. Januar 2007

ISBN 978-3-499244209

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