Sci-Fi für Selbstdenker – Cyberempathy

Sci-Fi für Selbstdenker – Cyberempathy

Wir befinden uns in der Metropole Skyscrape, irgendwann in der Zukunft. Technologie ermöglicht fast unendliche Optimierungen an Körper und Geist – sowohl kybernetischer als auch genetischer Art. Platz ist rar, also werden Städte in die Vertikale gebaut, statt in die Horizontale. Je höher du in der Gesellschaft aufsteigst, desto höher wohnst du, je tiefer du im Ansehen fällst, desto tiefer die Stadtebene, auf der du lebst. In der Oberstadt überträgt das Cybernet menschliche Empfindungen in Echtzeit an deren Umgebung, Schmerz, Trauer, Freude – und umgekehrt. Die Menschheit ist vereint, Kriege gehören der Vergangenheit an, alles lebt in scheinbarer Harmonie. Doch wie sieht es unter der Oberfläche aus?

Der Erinnerungskonstrukteur Leon wird Mittelpunkt einer Verschwörung und ins Exil in die Unterstadt geschickt, wo er plötzlich ohne das Cybernet auskommen muss. Erst alleine, dann mit einer illustren Runde an kampflustigen Unterstädtern, stellt sich Leon seinem neuen Leben. Wie interpretiert man menschliche Emotionen, ohne sie am eigenen Leib zu spüren? Wem kann man noch vertrauen, wenn jeder sich selbst der Nächste ist? Wollen wir Freiheit oder Sicherheit? Und was unterscheidet am Ende Mensch und Maschine?

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Nochmal nach vorne geblättert und mir einige Stellen erneut durchgelesen
  2. Dem Autor eine Nachricht geschrieben, dass ich das Ende feier
  3. Teewasser aufgesetzt
Cover von Cyberempathy von E. F. v. Hainwald. Foto: S. M. Gruber
Cover von Cyberempathy von E. F. v. Hainwald. Foto: S. M. Gruber

Mein Eindruck von Cyberempathy

Ich sage es ganz ehrlich: Ich hatte anfangs keine großen Erwartungen an Cyberempathy. Was mich skeptisch machte, waren vorherige Sympathiekäufe, die ich teilweise sogar abgebrochen habe. Erst nachdem ich dieses Buch eineinhalb Jahre lang auf diversen Messen immer wieder in die Hand genommen hatte, musste ich es dann doch mitnehmen. Und am Ende hat es mich tatsächlich sehr positiv überrascht. Das Cover ist toll, die Utopie (oder ist es doch eine Dystopie?), die E. F. von Hainwald hier geschaffen hat, wahnsinnig interessant und die Charaktere sind wirklich mal etwas anderes.

Nach den ersten paar Lektorats- bzw. Korrektoratspfuschern konnte mich die Geschichte sogar richtig packen und ich flog geradezu durch die gut 500 Seiten Paperback. Man merkt schnell, wie viel Liebe E. F. von Hainwald in dieses Buch gesteckt hat, vom Cover über die Illustrationen bis hin zu den kleinsten Details innerhalb der Geschichte. Hier hat sich ein talentierter Autor seiner Kreativität hingegeben, ohne sich von Genregrenzen, Plotmustern und sonstigem Quatsch einschränken zu lassen.

Stärken des Buchs

Die größte Stärke von Cyberempathy ist seine Originalität. Ganz eindeutig spielt E. F. von Hainwald mit den Grenzen des Sci-Fi-Genres, indem er einige typische Charakteristika einbringt und wiederum andere gezielt aufbricht. Das alles fügt sich zu einem außergewöhnlichen Roman zusammen, dessen größte Stärken sich vor allem auf den folgenden drei Ebenen finden:

Weltenbau

Das Gesellschaftssystem ist logisch: Übermäßige Empathie bewirkt ein friedliches Zusammenleben in der utopischen Welt an der Oberfläche. Durch harte, effiziente Arbeit kann man sich Ebene um Ebene nach oben ackern. Statt ins Gefängnis werden gesellschaftlich Verstoßene in die Unterstadt gesteckt, wo sie vom Cybernet abgekoppelt werden. Ohne das Cybernet fühlt man dort die Emotionen anderer Menschen nicht mehr. Einerseits ist Gewalt also wieder möglich, wenn man den Schmerz seines Gegenübers nicht spürt, und andererseits ist man auch mit den eigenen Emotionen alleine – manchmal auch sehr einsam. Soweit also alles im Rahmen, oben hell und gut, unten dunkel und böse.

Oder ist es doch ganz anders, als es auf den ersten Blick scheint? Was ist nun wirklich Freiheit: Die absolute Transparenz, scheinbar gleiche Chancen für alle, solange man nicht aus der Reihe tanzt, das System gefährdet? Oder doch die Selbstbestimmung, die Kontrolle über die eigenen – und ausschließlich die eigenen – Gefühle, abseits jeglicher Regeln? Hier treffen zwei Extreme aufeinander, doch die Entscheidung, was nun die wirkliche Utopie ist (und was nicht), überlässt der Autor unserem eigenen Urteil.

Ich will nicht zu viel verraten, doch beide Extreme funktionieren und sind in sich logisch. Überhaupt sind die Eigenheiten dieser Welt gut erklärt und es gibt kaum Logikfehler. Und das Beste: Egal ob Oberstadt oder Unterstadt, die Gesellschaft ist weit genug entwickelt, dass Sexualität, Geschlecht und Hautfarbe keine Rolle mehr spielen.

Wie viel Zeit der Autor in den Weltenbau gesteckt hat, weiß ich nicht, aber es wirkt auf jeden Fall so, als wäre hier einiges an Arbeit reingeflossen und das macht sich definitiv bezahlt.

Buchinnenteil von Cyber Empathy von E. F. v. Hainwald. Foto: S. M. Gruber
Buchinnenteil von Cyber Empathy von E. F. v. Hainwald. Foto: S. M. Gruber

Charaktere

Ich liebe jeden einzelnen dieser wunderbar eigenartigen Charaktere. Der Protagonist Leon ist liebenswürdig, aber auch ehrgeizig und natürlich ganz schön naiv, denn er kommt praktisch aus einer anderen Welt, der Oberstadt. Nun muss er in der Unterstadt plötzlich ohne Cybernet die Emotionen seiner Mitmenschen deuten, um den Alltag zu überleben. Noch dazu hat er so gut wie keine Verbesserungen an seinem Körper vornehmen lassen, sodass er im Nahkampf ziemlich unbrauchbar ist. Das Coole an ihm ist, dass er zwar eine schwere Zeit hat, die man auch gut nachvollziehen kann, aber er ist dabei nicht nervig. Andere Figuren würden jetzt endlos herumjammern oder ständig dummes Zeug machen, aber nicht Leon – er ist zwar immer mal ängstlich, aber er erarbeitet sich diese neue Umgebung Schritt für Schritt und macht eine tolle Entwicklung durch. Außerdem ist er sehr charmant und hat Humor, das gefällt mir.

Rade, gewissermaßen eine überoptimierte Kampfmaschine, ist ein richtiger Haudrauf und nimmt sich Leon an, als der am Tiefpunkt angelangt ist. Ob er das aus reiner Güte oder mit einem Hintergrundgedanken macht, erfahren wir im Laufe der Geschichte. Fest steht, dass er eher ein Antiheld ist und mich beim Lesen mehr als einmal überrascht hat. Er ist maskulin (seltsamerweise trotz einer gewissen Grund-Gewalttätigkeit ohne den toxischen Part), auf seine eigene Art respektvoll und auf der Suche nach der eigenen Empfindsamkeit.

Die Frauenfiguren sind vielfältig, selbstständig und brechen ebenfalls mit so einigen Klischees. Lux, die sympathische Prostituierte mit dem losen Mundwerk, lockert so einige Situationen humorvoll auf und zieht immer mal das eine oder andere Ass aus dem Ärmel. Sie geht frei mit ihrer Sexualität um und wirkt dabei nicht anzüglich, sondern empowernd. Die Mechanikerin Skylynn ist die Rationalste der vier Freunde und macht das Beste aus dem, was ihr zur Verfügung steht. Sie ist die Smarte, meistens die Vernünftige und lässt sich aus nichts aus der Ruhe bringen. Entgegen der gängigen Klischees wirkt sie dadurch aber nicht emotionslos oder socially awkward, ganz im Gegenteil.

Die Figuren sind allesamt facettenreich und handeln innerhalb ihrer Charakterzüge logisch. Sex, Drugs und Raufereien stehen an der Tagesordnung des kuriosen Quartetts, ohne dass sie dadurch Sympathiepunkte einbüßen. „Cyberpunk“ nennt der Autor sein Genre und gerade in Hinblick auf die Charaktere finde ich das sehr passend.

Der Plot von Cyberempathy

Der Plot plätschert anfangs so dahin. Man flutscht angenehm durch zwei Drittel des Buchs, da es zwar innerhalb der Kapitel immer wieder mal Höhen und Tiefen gibt, aber keine übergeordnete Mission mit großen Ziel. Wie das Leben halt so ist. Und dann: BÄM! Plottwist! Und zwar nicht nur einer. Du bist Fantasy gewöhnt, wo dir am Ende alles auf dem Silbertablett präsentiert wird? Tja, Pech gehabt: Hier musst du am Ende selbst mitdenken. Vielleicht schreckt das manche ab, aber für mich wurde dadurch ein gutes zu einem großartigen Buch.

Schwächen des Buchs

 Sprachlich gibt es einige Mankos. Nichts Dramatisches, aber die Schreibweise ist leider nicht so originell wie der Inhalt. Es werden teils ausgelutschte Phrasen und Beschreibungen verwendet, die ich persönlich einfach nicht mehr lesen kann. Jetzt ist E. F. von Hainwald kein etablierter Literat, sondern außergewöhnlicher Geschichtenerzähler, also kann ich es ihm durchaus nachsehen.

Das Lektorat und Korrektorat könnte stellenweise besser sein, aber auch hier habe ich bereits weit Schlimmeres gelesen. Der Autor hat außerdem sprachliche Korrekturen für die nächste Auflage angekündigt, also bin ich milde gestimmt.

Mein Fazit zu Cyberempathy

 Einen halben Punkt Abzug gibt’s für die sprachliche Mittelmäßigkeit.

Insgesamt hat mich Cyberempathy aber schwer begeistert und sehr positiv mit seiner Originalität überrascht. Besonders die philosophischen und gesellschaftskritischen Aspekte, eingehüllt in einen interessanten, auf den ersten Blick lockeren Plot, machen dieses Buch zu einer absoluten Leseempfehlung.

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Cyberempathy

E. F. v. Hainwald

Science Fiction
Softcover, 552 Seiten

erschienen bei Gedankenreich

06. Juli 2018

ISBN 978-3-961115792


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