Ist das dieser deutsche Humor? – Bitte nehmen Sie meine Hand da weg [Rezension]

Ist das dieser deutsche Humor? – Bitte nehmen Sie meine Hand da weg [Rezension]

“Bitte nehmen Sie meine Hand da weg”: In seinem dritten Band humoristischer Kurzgeschichten nimmt uns Paul Bokowski mit in sein Berlin, mit zu seiner schrägen Familie, mit auf Tour und allerlei absonderliche Ausflüge, von Beelitz bis Kreuzfahrt. Ob Staubsaugerroboter, Puppentheater oder Ebay-Kleinanzeigenkäufer*innen, Paul Bokowski fällt zu allem etwas ein, was uns im Alltag so beschäftigt – und noch so einiges darüber hinaus.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Mich über die seltsame Formatierung der Danksagung gewundert
  2. Den Hidden Track am Schluss entdeckt, gelesen und für überflüssig befunden
  3. Paul Bokowskis Instagram-Account gecheckt und für sehr lustig befunden

Mein Eindruck zu “Bitte nehmen Sie meine Hand da weg”:

Satire, Groteske, die Weiterentwicklung eines typisch deutschen Poetry Slams, wie soll man das nennen? Es ist schwierig für mich, das Buch einzuordnen. „Humoristische Erzählungen“, steht auf dem Einband. Ja, sicher. Aber kann man das überhaupt abdrucken? Ich sehe das sehr gelungene Cover und frage mich, ob die Witze nicht mehr von der Live-Lesung leben, von der Mimik, Gestik, Betonung Pauls, als vom eigentlichen Text.

Paul Bokowski folge ich schon lange auf Instagram. Er ist auf nerdige Weise cool und sein Instagram-Content bringt mich regelmäßig zum Lachen, am allermeisten die kurzen Texte in den Bild Captions. Immer, wenn er ein neues Buch rausbringt, bekunden die Bookstagrammer meines Vertrauens Begeisterung. Als dann sein neuestes Buch, Bitte nehmen Sie meine Hand da wegbei mir im Briefkasten lag, konnte ich es kaum erwarten. Wir sind ja quasi Nachbarn, beide fest verankert im Wedding, beide Fans von bösem Humorund vor allem nicht ursprünglich Deutsch, das konnte nur gut werden. Dachte ich.

Stärken des Buchs:

Paul Bokowski hat ein treffsicheres Gefühl für relatablecontent. Situationen also, mit denen man sich identifizieren kann, Situationen, in denen man sich denkt:Kenn ich. Und selbst, wenn man die Situationen nicht kennt, stellt er sie so schonungslos ehrlich dar, dass man denkt, man kenne sie. Mal ehrlich, wer musste nicht schon mal einem älteren Semester das Internet erklären? Aus freundschaftlicher Solidarität mit ins Kinderpuppentheater, mit den Eltern in den Urlaub, einen Fan mit Fußfetisch auf eBay Kleinanzeigen abwehren … Achso, nicht? Nach Pauls Erzählungen wirst du auf jeden Fall wissen, wie es sich anfühlt.

Was mir besonders gut gefällt, ist die Selbstironie die immer und überall mitschwingt. Da nimmt einer das Leben und vor allem sich selbst nicht zu ernst. Völlig egal, um welchen Lebensbereich es geht – Familienstatus, Wohnort, Beruf –, Paul ist vor Paul nicht sicher und das ist vor allem eines: lustig.

Zitat: „Zu allem Überfluss vom verzweifelten Versuch geträumt, in der Schweiz ein Bankkonto zu eröffnen. Selten in einem meiner eigenen Träume so herablassend behandelt worden. Trotzdem mit einer Morgenerektion erwacht. Verwirrung.“

Erzählungen, bei denen ich geschmunzelt und nicht selten sogar verhalten gekichert habe:

  • Alle Tourtagebücher
  • Genpool
  • Briefe an einen schwulen Dichter
  • Selbstabholer, kein Versand
  • Fünf ist eine warme Farbe
  • Die Fenster zum Hof

Schwächen des Buchs:

Die an sich schon witzigen Alltagsszenarien enden leider viel zu häufig in grotesken Übertreibungen, die dem Witz jegliche Feinheit nehmen. Muss es immer gleich so ausarten? Ist das dieser deutsche Humor, dass man Sachen nur witzig findet, wenn sie so übertrieben sind, dass auch der letzte Hubert aus Beelitz (nooffense an alle Spargelstecher, das ist ein Insider aus dem Buch) versteht, worum es geht? Ein bisschen Absurdität schadet ja nicht, aber den meisten Erzählungen hätte es besser getan, wenn Paul Bokowski seiner Fantasie nicht ganz so freien Lauf gelassen hätte. Der Alltag ist doch schon witzig genug. Es reicht, wenn man ihn ein bisschen übertreibt, damit es witziger wird, aber man muss ja nicht gleich einem Staubsaugerroboter Weltherrschaftsmotive unterstellen. Es ist wie mit dem Spargelessen: Ein paar Spargelspitzen im Hauptgang sind eine feine Delikatesse, aber ein ganzes Vier-Gang-Menü, das nur aus Spargel besteht, ist schlicht und einfach zu viel.

Am meisten stören mich diese Enden, die klingen, als hätte man sie sich beim Schnapstrinken mit der Verwandtschaft ausgedacht. So, als hätte einer eine lustige Geschichte erzählt und dann wäre immer einer mit einer noch abstruseren Idee dahergekommen, etwa so: „Ja genau, stell dir vor, das geht so weit, dass du den Namen dieser einen Person nie herausfindest, nicht mal wenn ihr beginnt zu daten … haha … und … und dann sogar heiratet, haha, und du weißt den Namen immer noch nicht, wie witzig wäre das denn?“ Die Antwort lautet: Es ist schon witzig, aber bei weitem nicht so sehr, wie man es sich vorstellt. Witzig ist es, wenn man eh schon betrunken ist und sich gegenseitig in bester Gesellschaft hochschaukelt, aber nicht, wenn es dir ein Text in einem Buch so erzählt – ganz ohne Mimik, Gestik oder Tonfall.

Erzählungen, die mich im besten Fall langweilen und im schlechtesten so hart die Augen rollen lassen, dass ich fürchte, sie könnten steckenbleiben:

  • Staubi allein zu Haus
  • Warten auf Merlot
  • In der Not frisst der Teufel Spargel
  • Bettercall Paul
  • Bokowskis und der stille Gast
  • Biederitz sehen und sterben

Mein Fazit zu “Bitte nehmen Sie meine Hand da weg”:

Es ist so schade. Die Erzählungen hätten wirklich feinsinnig witzig sein können. Einige sind genau richtig, einige mehr reizen den Witz eine Spur zu sehr aus, sind ein bisschen zu viel des Guten. Und manche schießen weit über das Maß hinaus. Das ist mir zu viel Quatsch, zu flutschig für meinen Humor, der so trocken, schwarz und dreckig ist, wie das Innenleben von Pauls Staubsaugerroboter. Aber, und das ist jetzt wirklich entscheidend: Paul Bokowskis Lesungen sind so gut wie immer ausverkauft. Ich bin mir also sicher, er selbst kann seinen Humor ganz grandios rüberbringen. Die Stimme in meinemKopf kann es nicht.

Bitte nehmen Sie meine Hand da weg eignet sich nicht so gut, wenn man deutschen Humor nicht lustig findet. Es eignet sich jedoch sehr gut als Lektüre in den Berliner Öffis, als Ausstattung für Wartezimmer jeglicher Art oder als Zeitvertreib im praktischen Bauchtaschen-Format, wenn man mal wieder länger vor einem Berliner Club anstehen muss.

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Bitte nehmen Sie meine Hand da weg

Paul Bokowski

Humor Kurzgeschichte
Softcover, 192 Seiten

erschienen bei Goldmann

19. August 2019

ISBN 978-3-442488957


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