RPG-Bericht mit Potential – Play to Live: Gefangen im Perma-Effekt [Rezension]

RPG-Bericht mit Potential – Play to Live: Gefangen im Perma-Effekt [Rezension]

Max hat Krebs und nicht genug Geld, sich einfrieren zu lassen, bis ein Heilmittel erfunden wurde. Also geht er in AlterWorld, ein MMORPG, in dem man durch den allseits befürchteten und in seltenen Fällen geliebten Perma-Effekt digitalisiert wird und für immer und ewig als Rollenspielcharakter leben kann. Dazu muss man lediglich in eine FIVR Kapsel steigen und drei Tage am Stück spielen. Irgendwann verschwindet das Ausloggen-Symbol und man kann nicht mehr raus. Das geschieht auch Max, der fortan Laith genannt wird. Als Nekromant bzw. Todesritter zieht er mit seinem Haustier, einem Bären, durch die Welt und erledigt Quests.

Die ersten drei Dinge, die ich nach dem Lesen getan habe:

  1. Den Glossar sowie sämtliche Werbeseiten am Ende durchgelesen
  2. Mich erneut über das Cover aufgeregt
  3. Bestätigung findend genickt – ich hatte recht!

Mein Eindruck zu Play to live – Gefangen im Perma-Effekt:

Ich hätte mir mehr Dystopie gewünscht. Mehr Drumherum, mehr Menschen, mehr Politik. Zu gern hätte ich Play to Live auf den Tisch bekommen und es als Lektorin bearbeitet. Leider lebe ich dazu auf dem falschen Kontinent. Das Cover gefällt mir ebenfalls überhaupt nicht. Es besteht aus Fotos von Shutterstock und ist vor allem hinten extrem billig gestaltet. Mit abgeschnittenen Bilderkanten im Word-1997-Style und so. Insgesamt ist mein Leseeindruck durchwachsen. Ich mag es, aber es hat extrem viele Schwächen. Ich würde es niemandem wirklich ans Herz legen oder auch nur empfehlen, dennoch möchte ich den zweiten Teil lesen.

Stärken des Buchs:

Man kann Play to Live kaum mit Ready Player One vergleichen. Das ist etwas Gutes, denn ich hatte, als ich das Buch auf meine Wunschliste setzte, ein bisschen Angst, es mit meinem derzeitigen Lieblingsbuch zu vergleichen und enttäuscht zu werden. Schon auf den Seiten um den Schmutztitel herum erfahren wir, das es sich beim vorliegenden Werk um den Grundstein eines neuen Genres, dem LitRPG  handeln soll. Dem haben wir im Buchensemble Folge geleistet und die entsprechende Genrekategorie aufgemacht. In der Hoffnung, dass weitere solcher Bücher auf dem Markt erscheinen. Pioniere braucht der Buchmarkt, neue Genre-Mixe sind ungewohnt und spannend.

Eher neutral als stark sind die Details aus der Spielewelt. In der ersten Hälfte des Buches haben sie die Geschichte lebendiger gemacht und waren für mich als jemanden, der sich in MMORPGs auskennt, angenehm. Dennoch waren sie redundant und wurden von mir in der zweiten Hälfte des Buches eher mit genervten Lauten überflogen. Ein Gamer Jargon wird dabei vorausgesetzt – was ich ganz passend und in Ordnung finde, da man es notfalls im Glossar nachlesen kann, wenn man keine Ahnung hat. Für wen das Internet aber kein Neuland ist, der hat die meisten Worte schon einmal gehört, und wer sich schon mehr als nur ein paar Stunden mit Steam & co beschäftigt hat, kommt gut klar. Einziger Manko: Es heißt NPC, nicht NSC. Sorry, Heyne, aber holt euch Übersetzer, die schon mal selbst online gezockt haben. Eindeutschung kommt uncool an.

Macht eigentlich Spaß …

Ein bisschen spielt Play to live mit dem Gehirn des Lesers. Auf Seite 78 habe ich vergessen, dass der Protagonist Max heißt, da er nur noch mit seinem Charakternamen Laith angesprochen wurde. Das war interessant und ich habe dem Autor unterstellt, dass das Absicht war. Bis ich auf zahlreiche Plotholes und Logikfehler gestoßen bin, die diese Absicht widerlegen könnten. Dennoch: Lasst mich das als Kompliment auslegen! Ich möchte ein Buch, das so viel Spaß gemacht hat, nicht total negativ bewerten. Dennoch kann ich schon an dieser Stelle gestehen – sorry, doch es schwappt die ganze Zeit schon durch –, dass Play to live deutlich mehr Schwächen als Stärken hat.

Doch zunächst noch etwas Positives: Die Wirtschaftsmechanismen von AlterWorld sind interessant und geben dem Buch gegen Ende hin einen richtigen Kick. Ich hatte ab Seite 350 das Gefühl, dass endlich eine Art Handlung zustande kommen würde und bin dadurch am Ball geblieben.

Der Anfang von Play to live – Gefangen im Perma-Effekt* ist außerdem stark geschrieben. Frei nach Röntgens Motto “Vier Seiten für ein Hallelujah” hat mich das Buch sofort in seinen Bann gezogen. Die ersten 75 Seiten wurden am Stück verschlungen. Der Eintritt von Max in die Welt von AlterWorld und das ganze Organisatorische um das bewusste Eingliedern in den Perma-Effekt sind anschaulich und spannend dargestellt. Ab Seite 75 wartet man darauf, dass die Handlung Fahrt aufnimmt. Gibt der Geschichte Zeit bis Seite 100 und knapp darüber. Und dann stellt man fest, dass dieser Satz im Schwächen-Teil der Rezension fortgeführt werden muss.

Schwächen des Buchs:

Was ist mit der Handlung los? Und mit den Menschen der echten Welt, die Serverräume zerbomben und das Leben von Perma-Spielern und virtuellen KI beeinträchtigen? Was ist mit Max’ Mama, die eigentlich Geldsorgen hat und bei der sich Max dann als Laith meldet? Wieso wird der vermeintliche Haupt-Plot um Taali überhaupt nicht zu Ende geführt und offen gelassen – aber auf die Art offen, die das Gefühl hinterlassen, nach 448 Seiten hätte Dmitry Rus einfach einen Zahnarzttermin gehabt, das Manuskript gespeichert und eben abgesendet. Die Geschichte ist unvollständig. Für ein Buch mit Klappe & Deckel ist das eine schwache Leistung. Das Lesen hat mich absolut unbefriedigt zurückgelassen. Wüsste ich nicht, dass schon seitMonaten der zweite Teil angekündigt und mit festen Veröffentlichungsdatum angepriesen wäre, wäre ich hier wirklich sehr enttäuscht.

A propos enttäuscht – ich weiß nicht, in welchem Jahrhundert die Russen in Dmitry Rus’ Play to live leben, aber 2018, da, wo ich zeitgeschichtlich herkomme, spielen Frauen, wenn sie sich in ein MMORPG einloggen und als Kämpferin unterwegs sind. Taali tut das nicht. Sie ist nicht im Perma-Modus, sondern eine Frau, die im echten Leben vor dem Rechner sitzt. Was tut eine Frau, wenn sie im Dungeon von einem Mitspieler geschlagen wird? Klar, sie setzt ihren Charakter auf den Boden und wählt die Funktion “hilflos schluchzen und weinend auf den Held warten”. Was tut eine Frau, wenn ein Kämpfer-Turnier stattfindet, in der man seine Kräfte messen und gutes Preisgeld gewinnen kann? Man setzt seinen virtuellen Charakter auf eine Bank und lässt ihn bei den Spielen zu sehen. Im Ernst.

Frauenbild in Play to Live

Wie kann ein Mensch in einer Geschichte, die in der Zukunft spielt, Frauen nur so kindlich, hilflos und dämlich darstellen? Wer zum Henker loggt sich in World of Warcraft ein, nur um dann dumm rumzustehen und anderen beim Spielen zuzusehen? Wenn ich eine solche Dame unter unseren Lesern findet, würde ich mich über eine E-Mail freuen. Bis dahin steht die Darstellung der Protagonisten-Braut (denn zu mehr ist Taali in 95 % des Buches nicht gut) hier ganz klar in den Schwächen. Der Charakter wird unglaubwürdig eingeführt, ist uninteressant gestaltet und hat auch später für die eigene Mission (Stichwort Rache) fragwürdige Motive, ein seelenloses Dasein und gleicht einem Poster aus der BRAVO mehr als einem echten Menschen.

Stil und Sprache

A propos seelenlos: Eine weitere Schwäche von Play to Live ist ganz klar der Schreibstil. Es handelt sich beim hier vorliegenden Werk nicht um einen Roman mit Spannungskurve und co. Es liest sich eher, als hätte jemand ein Let’s Play mitgeschrieben und sich dazu eine Geschichte ausgedacht. Beim Lesen war mir teilweise so langweilig, dass ich nicht mitbekommen habe, dass der Protagonist entführt wurde oder gegen das zich-tausendste Monster kämpft, weil der monotone und repetetive Berichterstattungs-Schreibstil alles überschattet, was annähernd an einen Spannungsbogen herankommen konnte.

Darüber hinaus war das ganze Ding zu fantasy-lastig. Ich habe beim Schreiben der Rezension schon überlegt, das neue Genre nicht anzuerkennen und einfach “Fantasy” daraus zu machen. Wer mich kennt, weiß, dass ich Fantasy grauenhaft finde und sowas eigentlich nie lesen würde. Gäbe es nicht die Level-Up-Angaben, Manapunkte und gamingbezogene Infos sowie Administratoren, würde das Buch in das von mir so ungeliebte Genre schlittern.

Kann ich nicht verschweigen:

ACHSO! Und eine Sache noch: Was mit dem Körper passiert, wenn ein Mensch in den Perma-Effekt geht, wird nicht erzählt. Auch, wenn man noch nicht im Perma-Effekt ist, schmeckt Essen und Trinken sofort total gut durch die Geschmacksdateien im MMORPG, aber Toilettenbedürfnisse oder sonstwas gibt es nicht. Alles darüber hinaus wird großzügig beschrieben. Das ist etwas merkwürdig; wenn man auf solche Dinge eingeht, dann sollte man das auch richtig tun.

Absolut schenken kann man sich die Kampfszenen. Sie sind ziemlich irrelevant und langweilig geschrieben. Zwischen Seite 101 und 134 geschehen Kämpfe, die man letzten Endes auf fünf Seiten hätte darstellen können. Das kann auch daran liegen, dass der Protagonist Laith ein Haustierbesitzer ist. Er selbst kämpft nicht, er hat einen Bären dabei, der alles für ihn erledigt und generell ziemlich op ist, wenn man das mal so sagen darf. Allgemein finde ich, dass Play to Live ein richtig gutes 4,5-Sterne-Buch geworden wäre, hätte man es ordentlich gekürzt und auf das Wesentliche reduziert, dafür aber eine Auflösung wenigstens eines einzigen Handlungsstrangs eingebaut.

Mein Fazit:

Allmählich beschleicht mich der Verdacht, dass Play to Live gar kein 448-Seiten-Werk war, sondern eigentlich ein 1000- oder 1200-Seiten-Werk und der Verlag hat achtlos ob der Hermetik des einzelnen Buches drei Bücher daraus geschnitten. Kann das sein? Man weiß es nicht. Daher werde ich den zweiten Teil wohl auch lesen. Hoffentlich wird er nicht so langatmig und löst endlich Taalis Plan auf, der kurz vor der Umsetzung stand oder die Befreiung von C., oder wenigstens den Dialog zwischen Dan und Laith. Vielleicht erbarmt sich auch die blöde Mutter von Max, nach zweihundert Seiten des Vergessenwerdens wieder in den Plot zurückzukehren. Man weiß es nicht. Ich bin gespannt. Eine Kaufempfehlung für alle, die Let’s Plays gucken und sich dabei langweilen, aber dennoch unterhalten fühlen. Genau so ist Play to Live.

Meine detailierten Reaktionen zu Play to live – Gefangen im Perma-Effekt kannst du bei lovelybooks.de nachverfolgen. Beim Lesen hatte ich genug Zeit, um zwischendurch eine Lesechronik anzufordern, da das Buch kaum fesselt.

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Play to Live – Gefangen im Perma-Effekt

Dmitry Rus

LitRPG
Softcover, 448 Seiten

erschienen bei Heyne

12. März 2018

ISBN 978-3-453319073
12,99 € bei Amazon*

 

2 Replies to “RPG-Bericht mit Potential – Play to Live: Gefangen im Perma-Effekt [Rezension]”

  1. Mit dem “neuen Genre” hat der Verlag ein klein wenig übertrieben. Spieler, die in ihrer Onlinerollenspielwelt gefangen sind, gab es gerade in japanischen Light Novels und Animes schon vor Jahren. Die Animeserie “.Hack//sign” von 2002 hat genau dieses Thema. “Sword Art Online” ist ebenfalls 2002 als Roman erschienen und der Anime von 2012 lief sogar bereits auf Pro7. “Konosuba” (kurz für “Kono Subarashii Sekai ni Shukufuku wo!”) erschien 2012 als Roman und 2016 als Anime. Alle drei Titel sind sehr prominent und es ist nur schwer vorstellbar, dass Heyne, die ja ebenfalls, wenn auch in geringem Maße, Mangas veröffentlichen (oder dies taten), noch nie davon gehört haben. Zumal “Sword Art Online” sogar auf Deutsch bei Tokyopop erschienen ist und “Konosuba” immerhin auf Englisch.

    1. Danke Claudio für deinen Kommentar. Tatsächlich steht es kurz vor dem Schmutztitel im Buch: Ich fürchte, Heyne hat hier zu Marketingzwecken wirklich geflunkert oder nicht so präzise recherchiert. Interessant, was man durch unsere Leser so rausbekommt; keinen der von dir genannten Titel kannte ich bisher

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